1856 begann der Mönch Gregor Johann Mendel mit ausgewählten Sorten der Erbse eine Untersuchungsreihe, die uns die Mendelsche Regeln einbrachten. Regeln, die die Vererbung eines genetischen Merkmals, in diesem Fall die Farbe der Erbsen, beschreiben. Manche Farben waren dabei dominant und setzen sich gegen andere Farben durch, andere wiederum traten nur auf, wenn der Kreuzungspartner dieselbe Farbe aufwies und abermals andere Kombinationen, führten zu Mischfarben. Soweit – stark vereinfacht – die Mendelschen Regeln.
Mendel brauchte dabei ziemlich lange und ausführliche Versuchsreihen, um zu identifizieren, welche Merkmale der Erbse dominant sind, sich folglich gegen andere durchsetzen und welche hingegen rezessiv sind und gar nicht in Erscheinung treten, wenn ihnen ein dominantes Merkmal gegenübersteht. Von Vorteil war dabei freilich, dass das Merkmal die Farbe der Erbse war und sie somit mit einem Blick identifiziert werden konnte. Die einen waren grün, die anderen gelb. Ende der Beobachtung.
Menschen sieht man die (Un-)Schläue nicht an
Ein Vorteil, den die menschliche Intelligenz nicht aufweist. Wir können nicht mit einem Blick erraten, ob unser gegenüber hochbegabt ist oder doch eher mit gemächlicher Geschwindigkeit denkt. Daher hat man Verfahren entwickelt, die die Intelligenz messen und in einem Intelligenzquotienten (IQ) abbilden sollen. Diese IQ-Tests fallen den meisten wohl als erstes ein, wenn es um Intelligenz beim Menschen geht.
Schließlich klingt es nach einem objektiven Verfahren, bei dem sich keiner herausreden kann und das genau klärt, ob man eben doof ist oder nicht. Doch so unproblematisch ist das nicht, wie leider allzu oft verschwiegen wird.
Es gibt nämlich drei Probleme mit der Intelligenz des Menschen: Erstens, was genau ist denn überhaupt intelligent sein? Schnelles Kopfrechnen? Die Fähigkeit ein Musikstück zu komponieren? Gutes räumliches Denken oder doch Kreativität? Es ist in der Wissenschaft – anders als es ein Sarrazin in seinem Werk »Deutschland schafft sich ab« darstellt – hoch umstritten, was genau Intelligenz sein soll. Zweites Problem: Was genau misst der IQ-Test dann? Kann man sich schon nicht auf eine feste Definition von Intelligenz einigen, kann der IQ-Test offenbar auch nicht die gesamte Bandbreite von möglicher Intelligenz erfassen.
Das dritte Problem ist dann die Sache mit der Vererbung. Selbst wenn man dann an dem Intelligenzbegriff festhält, der den IQ-Tests zugrunde liegt, hat die Genetik noch keine Spur, welche Gene, auf welche Weise, unser Gehirn beeinflussen. Entsprechend gibt es auch keine wirkliche Vorstellungen davon, wie sie vererbt werden. Fest dürfte nur stehen, dass es eben nicht nur ein einzelnes Intelligenzgen gibt, das uns klug oder, bei Fehlen, dumm macht. Daher sind auch die Mendelschen Regeln nicht so einfach auf menschliche Intelligenz anzuwenden, wie auf die Farbe einer Erbse. Ein Umstand der von Thilo Sarrazin in seinem Werk ignoriert wird.
Gene gegen Umwelt
Sarrazin geht jedenfalls fest davon aus, dass unsere Intelligenz maßgeblich vererbt wird. Dementsprechend schafft sich Deutschland ab, da sich die Dummen in den unteren sozialen Schichten stärker vermehren, als die Klugen in den oberen Schichten der Gesellschaft. Kann man ja auf RTL »Mitten im Leben« ganz praktisch und repräsentativ beobachten. Dass seine Theorie dabei nicht nur am umstrittenen Intelligenzbegriff schwächelt, sondern auch an der Unwissenheit darüber wie sich Intelligenz tatsächlich vererbt, verschweigt er gänzlich. Sollte Intelligenz beispielsweise rezessiv vererbt werden und nicht dominant würden auch unter den Dummen noch ungeahnte Mengen von Intelligenzgene schlummern. Er blendet diesen Teil der wissenschaftlichen Debatte aber einfach unkommentiert aus.
Was ist, wenn auch die Umweltfaktoren einen maßgeblichen Einfluss haben? Unser Gehirn hat nämlich eine herausragende Eigenschaft: Es ist unglaublich form- und trainierbar: Schon eine Woche Vokabeltraining einer Fremdsprache verändert unser Sprachzentrum für Neurologen messbar und dauerhaft. Die menschliche Geschichte müsste auch in ganz anderem Licht erscheinen, wenn man nur von der reinen Vererbarkeit der Intelligenz ausgeht: Zwischen der Steinaxt als Werkzeug und der allgemeinen Relativitätstheorie in der Physik liegen nur ein paar Jahrtausende. Ein viel zu kleiner Zeitraum, als das die Zunahme der Leistungsfähigkeit unserer Gehirne allein mit der Evolution unserer Gene erklärbar wäre. Dazu bräuchte es schon ein paar Millionen Jahre mehr.
Das widerlegt natürlich nicht, dass vermutlich ein Teil unserer Intelligenz vererbt wird. Doch es kann in keinem Fall allein an den Genen liegen. Unter diesem Blick auf unser Gehirn, das man trainieren kann, lässt sich auch eine andere Perspektive auf die soziale – besser wäre wirtschaftliche – Schichtung nehmen.
Vielleicht sind Kinder von Akademikern nicht klüger, weil ihnen der Hirnschmalz in die Wiege gelegt wurde, sondern weil die gebildeten Eltern ein ganz anderes Umfeld schaffen, das das Gehirn mehr fordert und folglich mehr trainiert. Eine Analogie kann man zum Sport ziehen: Sicherlich hat nicht jeder die Anlagen Weltrekorde im Sprint aufzustellen, aber selbst wenn man diese Anlagen haben sollte, werden sie wertlos, sobald man sich nie ausreichend bewegt und nur Fast Food zu sich nimmt. Mit unserem Hirn könnte es ähnlich sein.
Wir wissen zu wenig von unserem Hirn und unseren Genen
Das ist – zugegeben – Spekulation. Spekulation, die in der Wissenschaft aber im gleichen Maße fundiert ist, wie die Theorie der hauptsächlichen Vererbung von Intelligenz. Das ist der Punkt, der gern verschwiegen wird. Bei aller Wissenschaft und allen Studien ist es eben noch hoch umstritten was genau Intelligenz ist, wie man sie misst und in welchem Maße sie vererbt wird. Wir wissen es (noch) nicht.
Die Forscher haben bisher allenfalls einen Haufen Indizien zusammengetragen, aber noch keine stichfesten Beweise oder eine zusammenhängende und belegbare Theorie. Die selbst ernannten Experten von Intelligenz und deren Vererbung, wie Herr Sarrazin, verschweigen das aber gerne. Sie hängen der romantisierten Vorstellung nach, dass sich der soziale Status objektiv zuschreiben lässt und damit die Ungleichbehandlung von Menschen biologisch begründbar wird. Armut als biologische Eigenschaft sozusagen.
So fordert der Journalist Christian Weber jüngst in der Süddeutschen Zeitung, dass ein IQ-Test über die Schulwahl entscheiden soll. Bei all der Unsicherheit soll ein solcher Test also den Lebensweg von Kindern maßgeblich zementieren? Was ist, wenn das Kind zum Testzeitpunkt einfach noch nicht seinen maximalen Leistungsgrad im IQ-Test erreicht hat? Schließlich lässt sich für ein IQ-Test tatsächlich üben, sodass man sein Ergebnis verbessern kann (übrigens ein weiteres Argument dagegen, dass Intelligenz allein vererbbar sein soll). Was ist, wenn doch die Umwelt und die Kindheit prägenden Einfluss auf das Hirn hat? Wissen wir wirklich schon genug darüber, dass wir derart weitreichende Entscheidungen über unseren Weg in der Gesellschaft allein dem IQ-Test anvertrauen können?
Der wirtschaftliche Status ergibt sich auch durch andere Faktoren
Insbesondere die Versuche den Intelligenzbegriffs an unseren wirtschaftlichen Status zu knüpfen, sind fragwürdig. Es gibt immer wieder Studien, Berichte und Meldungen, dass Dinge wie die Emotionale Intelligenz ebenso wichtig oder wichtiger seien, für den wirtschaftlichen Erfolg. An der Wall Street kommt der Erfolg für Psychopathen vermutlich auch eher, als für nur intelligente Menschen. Die These Sarrazins, dass sich die Position in der Gesellschaft überwiegend aus der Intelligenz ergibt, die mit dem IQ-Test gemessen wird, darf mindestens angezweifelt werden.
Was ist Intelligenz, wie kann man sie messen, in welchem Maße wird sie vererbt und wie bestimmt sie unseren sozialen bzw. wirtschaftlichen Erfolg? Zu behaupten, wir hätten wissenschaftlich abgesicherte Antworten zu diesen Fragen, ist schlicht unseriös. Daraus Forderungen an die Gestaltung unseres Zusammenlebens in der Gesellschaft abzuleiten, ist schlicht gefährlich. So wie die Nazis, rein auf unbegründetem Verdacht von der Vererbarkeit von Alkoholsucht, Alkoholiker sterilisierten, könnten wir auf ähnlich widerwärtige Abwege geraten. Allein das, mit derartigen Forderung auf Grundlage von Halbwissen wieder hausieren gegangen wird und dabei auch noch öffentlicher Beifall eingeheimst wird, ist schon bedenklich.
Koppelt man wirklich die Chancen in der Gesellschaft oder gar die Fortpflanzungschancen – wie Sarrazin es zwischen den Zeilen fordert – an den IQ, könnten man genauso gut das Gegenteil erreichen. Vielleicht züchten wir uns dann Merkmale weg, die eigentlich viel bedeutsamer für unsere Intelligenz sind, aber die der IQ-Test nicht erfasst. Menschen sollte man aber nicht züchten und schon gar nicht auf Basis einer solch dünnen wissenschaftlichen Grundlage. Menschen sind am Ende eben keine Erbsen.
Letztlich ist für mich das einzig intelligente an Sarrazins »Deutschland schafft sich ab«, dass er damit eine Menge Geld verdient und Aufmerksamkeit bekommen hat. Ist vielleicht auch irgendwie eine Form von Intelligenz, für sich selbst den größtmöglichen wirtschaftlichen Nutzen, durch eine provokative Buchveröffentlichung zu erzielen. Wir wissen es (noch) nicht sicher.
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